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Titel
Genesis and Validity. The Theory and Practice of Intellectual History


Autor(en)
Jay, Martin
Reihe
Intellectual History of the Modern Age
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 300 S.
Preis
$ 34.95; £ 26.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Zill, Einstein Forum, Potsdam

Als 1973 Martin Jays Buch „The Dialectical Imagination. A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research, 1923–1950“ erschien, war dies die erste Monografie zur Geschichte der Kritischen Theorie. Während heute die Genese gerade dieser intellektuellen Schule in vielen Arbeiten umfassend erforscht ist, war Jays aus seiner Dissertation hervorgegangene Studie damals eine Pionierleistung, die umso bemerkenswerter erschien, als sie nicht von einem Frankfurter, sondern von einem Harvard-Absolventen stammte. Ein Ziel der Arbeit war es, die zu diesem Zeitpunkt in den USA noch wenig wahrgenommene Theoriewelt sichtbarer zu machen und ihr dort – aber auch in Deutschland, wo drei Jahre später eine Übersetzung herauskam – zur Durchsetzung der für Jay damals trotz aller Kritik noch aktuellen Gegenwartsdiagnosen zu verhelfen. Methodisch ging es dem Autor daher um eine „synoptische Darstellung“ bereits publizierter Texte.1

Längst hat Jay den engeren Bereich seines Erstlings verlassen – ohne ihm allerdings ganz untreu zu werden – und mehr als ein Dutzend Bücher vor allem zur Intellectual History der letzten rund 100 Jahre publiziert. Er ist dabei nicht nur einer ihrer besten Kenner, er pendelt auch souverän zwischen den Territorien der angelsächsischen und der so genannten kontinentalen Philosophie hin und her, wobei er sich vor allem als kundiger Vermittler europäischer Theorieansätze in der englischsprachigen Welt Verdienste erworben hat (ohne allerdings in Deutschland eine ähnliche Aufmerksamkeit zu erhalten – keines seiner späteren Bücher wurde übersetzt).

Diese große intellektuelle Reichweite zeigt sich auch in seiner jüngsten Aufsatzsammlung „Genesis and Validity. The Theory and Practice of Intellectual History“. Die dort versammelten Beiträge sind allerdings einmal mehr im Spannungsfeld von Buchladen und heimatlichem Schreibtisch entstanden; die Praxis der Ideengeschichte, die hier verhandelt wird, ist keine, die unser Verständnis von Theorien und intellektuellen Entwicklungen dadurch bereichert, dass sie etwa ihrer Genese anhand von unbekanntem Archivmaterial oder Interviews mit Zeitzeugen nachspürte. Die Stärke von Jays Texten ist vielmehr die Öffnung und Überschreitung von Horizonten. Das geschieht wiederum durch die ganz buchstäbliche Vermittlung zwischen den Welten, wie zum Beispiel in einem Beitrag über Hans Blumenbergs „Rigorismus der Wahrheit“, in dem Jay dem US-amerikanischen Publikum einen Denker nahebringt, der in der englischsprachigen Welt heute etwa so bekannt ist wie die Kritische Theorie in den frühen 1970er-Jahren: Für eine Reihe von Kennern durchaus namhaft, ist Blumenberg einer breiteren akademischen Welt nach wie vor allenfalls durch Hörensagen präsent. Jay führt ihn nun kundig vor, indem er an Blumenbergs Auseinandersetzung mit Hannah Arendt anknüpft, also einer Philosophin, die in Amerika ein hohes Renommée genießt und daher Aufmerksamkeit garantieren kann.

Jay vermittelt aber auch dadurch zwischen Welten, dass er theoretische Ansätze miteinander in Berührung bringt, von denen man dies nicht auf den ersten Blick erwarten würde, sie vergleicht und sich aneinander abarbeiten lässt. Ein originelles Beispiel ist hierfür der Beitrag „Walter Benjamin and Isaiah Berlin: Modes of Jewish Intellectual Life in the Twentieth Century“, in dem zwei Denker unterschiedlicher Herkunft, mit sehr verschiedenen Denkstilen und je eigenen Rezeptionstraditionen gegenübergestellt werden. Um die Sicht auf sie zu schärfen, werden sie durch die Brille von polaren Charakterprofilen betrachtet: Berlins eigenem Begriffspaar des Igels und des Fuchses, Leszek Kołakowskis Narr und Priester, Hannah Arendts Paria und Parvenu, Susan Sontags Ehemann und Liebhaber, Russell Jacobys intellektuellem Spieler und umsichtigem Investor oder dem von Benjamin inspirierten Produzenten versus Rentier. Was Jay dabei anhand von zwei einflussreichen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts zusammenträgt, mag uns für die beiden Anwendungsbeispiele mal weniger, mal mehr überzeugen; was den Aufsatz dennoch ungemein anregend macht, ist die Zusammenstellung der Typologie an sich: Zwar stammt keines dieser Figurenpaare von Jay selbst; indem er sie aber aufruft und in einer Art Modellkatalog versammelt, stattet er uns mit einem ebenso ungewöhnlichen wie erhellenden Analyseinstrument aus, im Sinne einer essayistischen Exploration von Denkstilen.

Womit der Band jedoch beginnt und was sich als roter Faden durch Jays Überlegungen zieht, ist die Frage nach der Geltung von Ideen und Theorien. Ausgerechnet Adorno beklagte einmal den narzisstischen Präsentismus, der einen historischen Autor daraufhin befragt, ob er uns noch etwas zu sagen habe. Ansätze wie diejenigen der Cambridge School von Quentin Skinner und John Pocock betonen dagegen, dass man ein Denkgebäude zunächst einmal aus seinem Kontext zu verstehen habe, dem gedanklichen Umfeld, aus dem es hervorgehe und auf das es reagiere. Dagegen beharrt aber auch in der Begriffsgeschichte eine andere Fraktion weiterhin darauf, dass es letztlich immer um die Wahrheit der vertretenen Positionen gehen müsse, etwa so wie Jay selbst einst die Kritische Theorie rekonstruiert hatte, gerade weil er sie für aktuell hielt. Gegen diese Opposition von Kontextualismus und Transzendentalismus bringt Jay nun aber noch eine dritte Alternative ins Spiel, mit der er inzwischen erkennbar sympathisiert. Sie knüpft an den Begriff des Ereignisses an und wird am Beispiel des französischen Philosophen Claude Romano erläutert. Das Auftreten bestimmter Begriffe lässt sich ihm zufolge nicht kausal oder logisch erklären. Neue oder neu aufgenommene Begriffe sind wie ein Riss im Kontinuum der Geistesgeschichte; sie erlangen ihre Bedeutung nicht durch das, wodurch sie ermöglicht werden, sondern durch das, was sie ihrerseits ermöglichen. Die Unbedingtheit solcher intellektuellen oder auch künstlerischen „Ereignisse“ im emphatischen Sinne rückt sie damit in große Nähe zu religiösen Erfahrungen: Es sind Offenbarungen. Ob sich aus solch einer Theorie der Intellectual History aber auch eine brauchbare Praxis entwickeln lässt, bleibt an der Stelle offen.

Aus dieser Konstellation erklären sich allerdings zwei Beiträge, die zunächst wie Fremdkörper in der Sammlung zu stehen scheinen: nämlich jene, die sich mit der Rolle der Fotografie beschäftigen. Die Frage, ob Fotos eher einen indexikalischen Charakter haben oder doch vor allem ein Zeichensystem sind, blickt auf eine lange Diskussion zurück. Die für einen der Beiträge titelgebende Frage, ob Fotos lügen können, betrachtet Bilder als Sprache und optiert für die zweite Möglichkeit. Doch auch hier führt Jay in eine scheinbar festgefahrene Gegenüberstellung eine dritte Option ein, strukturell analog zum tertium datur der Begriffsgeschichte. Angesichts des Streits zwischen Georges Didi-Huberman und Claude Lanzmann über die Aussagekraft von unscharfen Fotografien, die von Häftlingen des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau mit einer eingeschmuggelten Kamera selbst aufgenommen worden sind, erinnert Jay an den Begriff der Realpräsenz. Solche Aufnahmen beziehen ihre Geltung nicht aus dem, was sie zeigen, sondern aus dem, was sie tun: aus ihrer performativen Kraft.

Dass in den einzelnen Beiträgen immer wieder die Kategorien „Genesis“ und „Geltung“ ins Spiel kommen, ist – glaubt man Jay – kein Zufall, sondern das geheime Regulativ seines Bands, der mehr sein will als eine Sammlung von zufällig in den letzten Jahren (2007–2020) entstandenen Aufsätzen. Das Buch erhebt den Anspruch eines in sich konsequenten Argumentationszusammenhangs, der sich schon durch die Bezeichnung der dreizehn Beiträge als „Chapter“ ankündigt. Nun lässt sich die historisch kontingente Genesis der Teile nicht verheimlichen; ihre Geltung als Elemente einer Einheit muss also anders als durch eine explizite Intention begründet werden. Die nachträgliche Produktion solch einer Einheit von zunächst Disparatem soll daher durch die gut 20-seitige Einleitung geleistet werden. In einem Akt der Selbsterforschung entdeckt Jay in seinen eigenen Texten eine Kraft am Werk, die bei der ursprünglichen Abfassung der Beiträge nicht sichtbar war, die ihm selbst als Autor nicht präsent, zumindest von ihm nicht beabsichtigt war. In der retrospektiven Durchmusterung seiner vergangenen Bemühungen fiel ihm auf, dass etliche seiner Arbeiten sich in den letzten Jahren mit genau dieser Spannung zwischen Genesis und Geltung befasst haben. Das gilt schon für einige früher publizierte Texte, mehr aber noch für die hier zusammengestellten. Indem der Ideenhistoriker sich auf die Geschichte seiner eigenen intellektuellen Entwicklung zurückwendet, entdeckt er in der Genese seiner Gedanken einen Zusammenhang von eigener Geltung. Um ihn zu bekräftigen, bindet er die Ergebnisse in seiner Einleitung nun zusätzlich in eine Reflexion über die unterschiedlichen Varianten der Beziehung von Genesis und Geltung ein. Waren frühere Philosophen vor allem bestrebt, die Geltung der Theorien von ihrer Genese als einer kontingenten Situation abzukoppeln, ist heute gerade in dem weit verbreiteten Bemühen, Ideen, die als universalistisch verstanden werden, als Ergebnis eines letztlich selbst kontingenten, aber hegemonialen westlichen Denkens zu diskreditieren und anderen Identitäten mit ihrer je eigenen Ideenwelt einen gleichberechtigten Wahrheitsanspruch zu konzedieren, die Geltung von Theorien unablösbar mit ihrer Genese verknüpft.

Martin Jay bleibt in seinen Beiträgen auffällig unentschieden, wenn es darum geht, für eine der Seiten, Kontextualismus oder Transzendentalismus, die Verteidigung partikularer Identitäten oder des Universalismus, Partei zu ergreifen. In seiner Einleitung spricht er diese Zurückhaltung explizit an und verteidigt sie als bewusstes Bemühen darum, den Horizont offenzuhalten, damit sich alle Beteiligten gegenseitig bereichern können. Eine Referenz an Gadamer klingt kurz an, obwohl Jay nicht so weit gehen möchte, von einer Horizontverschmelzung zu sprechen. Wichtig ist ihm aber, dass auch da, wo man nicht unbedingt einen Universalismus verteidigen will, die Partikularismen keineswegs als so hermetisch aufgefasst werden dürfen, dass sie sich nicht durch einen Blick über ihre jeweiligen Grenzen hinaus gegenseitig korrigieren und bereichern könnten – über geografische und auch über historische Distanzen hinweg.

Anmerkungen:
1 Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950. Aus dem Amerikanischen von Hanne Herkommer und Bodo von Greiff, Frankfurt am Main 1976, S. 1. Es erschienen zahlreiche Neuauflagen und Nachdrucke (zuletzt 2018).